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Ein neuer Typ der Migrantenvereine

By 24. April 2016

Hier, wo wir leben, für heute und morgen – und im Verbund

Mehr als 50 Jahre neue Einwanderung in Deutschland: Ist die große Zeit der Migrantenvereine nicht vorbei? Die Arbeitsmigranten der 1. Generation brauchten sie als Brücke zur Heimat, in die sie so rasch wie möglich wieder zurückkehren wollten. Diejenigen, die vor Krieg und politischer Unterdrückung geflohen waren, brauchten sie, um die Zeit in der Diaspora zu überstehen.
Migrantenvereine und Einwanderungsgesellschaft

Viele Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten sind aber geblieben, ihre Kinder schon hier geboren und/oder aufgewachsen, die „Enkel-Generation“ hat keine eigenen Migrationserfahrungen mehr.
Auch das politische Exil, von dem gehofft wurde, dass es schnell vorüberginge, ist für viele zu einem dauerhaften Leben in Deutschland geworden. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird (fast) nicht mehr in Zweifel gezogen. Die Migrantenvereine: Orte der Erinnerung an die Herkunftskultur? Einige Jahre schien es so, als ob sie nur noch für die „Alten“ wichtig seien.
Aber auch das galt und gilt nicht für alle Vereine, z.B. gilt dies nicht für religiöse Vereine und insbesondere nicht für die Moscheevereine, die sich vervielfältigt haben, in der Migranten-Community eine erhebliche Verankerung erreichen und zeitweilig auch eine Art „Sprecherrolle“ für die Interessen von Migrantinnen und Migranten allgemein in Deutschland für sich beanspruchten. Auch jene Migrantenorganisationen, die sich vor allem auf ihre jeweiligen Herkunftsländer und die dortige Politik oder allgemein auf Weltanschauungen, auch fundamentalistischer Art, orientieren, haben und finden Mitgliedschaft . Manchmal fallen religiöse Ausrichtung und eine starke politische Bindung an das jeweilige Herkunftsland auch zusammen, wie z.B. die aktuelle kritische Diskussion zu den DITIB – Moscheevereinen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion zeigt.
Migrantenorganisationen: bisher hauptsächlich „mono“

Es gibt nicht nur eine große Zahl – Schätzungen reichen in Deutschland von 10.000 bis 20.000 -, sondern auch eine große Vielfalt bei den Migrantenorganisationen in Deutschland. Die größten und bislang einflussreichsten Migrantenorganisationen sowohl auf der Bundes- und Landesebene, als auch auf der lokalen Ebene haben allerdings bei aller Unterschiedlichkeit zwei Merkmale gemeinsam: sie sind mono und sie vertreten jeweils eine auch zahlenmäßig große Gruppe von Menschen mit Migrationsge- schichte. Mono meint: sie beziehen sich entweder auf ein Herkunftsland oder eine Herkunftsvolksgruppe und/oder auf eine bestimmte Religion. Das heißt aber: auch dann, wenn sich diese Organisationen zu den Verhältnissen hier und heute in Deutschland äußern, tun sie dies in der Regel auch durch die Brille ihrer mono-Orientierung. Als „Vertreter“ jeweils großer Gruppen von MigrantInnen lassen sie defacto den kleineren Gruppen wenig Raum.
Teilhabe-Defizite überall

Auch vor Ort – in den Kommunen – gibt es nach wie vor (politische) Teilhabe-Defizite, was den großen und wachsenden Teil der Bürgerschaft mit Migrationsgeschichte betrifft . So sind z.B. Menschen mit Migrationsgeschichte in den Kommunalparlamenten immer noch unterrepräsentiert, das Kom- munalwahlrecht für ausländische MitbürgerInnen immer noch nicht durchgesetzt. Vielerorts spielen die Integrationsräte – wenn überhaupt – nur in Fragen, die traditionell als „migrantisch“ definiert werden, eine (beratende) Rolle; in der Regel sind die Integrationsräte auch von den traditionellen, auf eine Herkunft oder auf eine Religion bezogenen Organisationen dominiert.
Ein neuer Typ der Migrantenorganisation

Seit einiger Zeit entsteht nun an verschiedenen Orten in Deutschland mit lokalen Verbünden ein neuer Typ von Migrantenorganisationen. Diese lokalen Verbünde sind ein Zusammenschluss unterschiedlicher Migrantenorganisationen, unterschiedlich, was die ursprünglichen Herkunftsländer und – Regionen betrifft, die Intensität ihrer Beziehungen nach dort, unterschiedlich auch in ihren weltanschaulichen Orientierungen und ihren Aktivitätsprofilen. Was sie vor allen Dingen vereint, ist ihr klarer und eindeutiger Bezug auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse hier und heute, und mit Blick auf morgen.
Die Verbünde sind säkular, das heißt kirchenunabhängig, herkunftsüber- greifend, demokratisch und partizipativ und sie bieten vor allem auch für kleinere Migrantenorganisationen einen starken Rahmen. Dies ist ein wichtiger Aspekt. Die Migrantenorganisationen, die in den Verbünden mitwirken, teilen wichtige Prinzipien (wie z.B. Respekt, Antirassismus, säkulare Orientierung, Unabhängigkeit von Fremdsteuerung), Selbstorganisation und Autonomie bleiben entscheidende Organisationsprinzipien und sie verfügen über eine ausreichend große Schnittmenge für ein gemeinsames sozio-kulturelles Engagement.
Vor allem aber wollen sie, indem sie sich verbünden, durch eine gemeinsame Artikulation von Interessen in ihren jetzigen Heimatstädten die Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte wirksam verbessern. Der lokale und kommunale Bezug ist für diese Verbünde charakteristisch. Gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen des lokalen und kommunalen Lebens ist Handlungsgrundlage und Ziel zugleich.
Die Stunde der Verbünde?

Der Verbund sozial-kultureller Migrantenvereine Dortmund e.V., VMDO, war einer der Ersten dieses „neuen Typs“ von Migrantenorganisationen in Deutschland (www. vmdo.de). Seine Wertschätzung wächst, sowohl bei der Stadt Dortmund, die den VMDO in einem gewissen Umfange fördern, wie bei vielen lokalen Partnern. Trotzdem bleibt die Rolle, die der Verbund lokal einnehmen könnte, noch weit hinter den schon vorhandenen und ausbaufähigen Potenzialen zurück. Das ist durchaus auch eine kommunalpolitische Frage. Für Migranten- organisationen jedenfalls, die im regionalen Feld aktiv sind, ist der vmdo zunehmend attraktiv: seine Mitgliedszahlen steigen.
Dieselben Erfahrungen machen auch die anderen Verbünde – es sind mittlerweile 11, mit steigender Tendenz -, die im Bundesverband
NeMO zusammen geschlossen sind (www.bv-nemo.de). Sie erleben in den Migranten-Communities eine erneut erwachende Bereitschaft mitzumachen und sich einzubinden und bei den Kommunen ein wachsendes Interesse an Zusammenarbeit.
Teilhabe für Geflüchtete:

Die neue große Herausforderung: 
Diese Neugier gegenüber Verbünden hat sicherlich auch mit dem „frischen Wind“ zu tun, den diese explizit auf lokale Teilhabe orientierten Verbünde in die schon routinierten und in die Jahre gekommenen Verhältnisse zu den bislang dominierenden mono – Organisationen bringen. Aber nicht nur: Dass Verbünde jetzt eine Chance haben, Fuß zu fassen und ihre lokale Rolle zu finden, hat auch mit der großen Zahl Geflüchteter zu tun, die vor Ort ankommen, die aufgenommen und denen eine Teilhabe-Perspektive gegeben werden muss.
Netzwerke oder Verbünde von Migrantenorganisationen können in besonders wirksamer Weise einen Beitrag zur lokalen Flüchtlingsarbeit leisten, weil sie ein breites Spektrum verschiedener einzelner Migrantenvereine – mit vielen Anschlüssen an die Herkünfte der Geflüchteten – umfassen, Fähigkeiten und Ressourcen, die auch aus der eigenen Geschichte von Migration und Flucht stammen, in einer sinnvollen Weise bündeln können und in dem von ihnen praktizierten fairen Miteinander bei großer Vielfalt zugleich auch ein „Modell“ friedlichen und produktiven gesellschaftlichen Zusammenlebens abgeben. Ein vom Bundesverband NeMO organisiertes und von der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördertes Vorhaben (www.bv-nemo. de/samofa) erprobt dies gegenwärtig bundesweit in 28 Städten.

VMDO-Vorstand

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