DialogkonferenzÜberregionales

Vom Juniorpartner zum gleichberechtigten Akteur – Migrantenorganisationen ziehen bei der bundesweiten Dialogkonferenz in Berlin Bilanz

By 20. November 2017

Während die Gespräche über eine Jamaika-Regierungskoalition am Wochenende vor allem am Thema Zuwanderung scheiterte, diskutierte der Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen e.V. (NeMO) auf einer bundesweiten Dialogkonferenz die Ergebnisse seines Modellprojektes samo.fa (Stärkung der Aktiven aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit) mit Wissenschaftlern, Integrationsbeauftragten aus Bund, Ländern und Kommunen und Vertretern der etablierten Wohlfahrtsverbände. „Der lange Sommer des Willkommens ist vorbei“, sagte Ümit Koşan, NeMO-Vorstand bei der Konferenz im Palais der Berliner KulturBrauerei. „Sein Erbe müssen wir gegen den erstarkenden Rechtspopulismus verteidigen, denn Flucht und Fluchtursachen bleiben.“

Ebenso bleiben viele Menschen, die im Flüchtlingssommer 2015 nach Deutschland gekommen sind – und für die es heute nicht mehr Erstversorgung geht, sondern um Teilhabe und das Ankommen im neuen Alltag. So lautete auch das Motto der Konferenz: „Den neuen Alltag bewältigen.“ Dazu gehört auch das große Streitthema der Bundesparteien: Familiennachzug. „Wie soll ich funktionieren, Deutsch lernen, Arbeit finden, wenn meine Familie nicht kommen darf?“, fragt ein Geflüchteter auf einer der 1.000 Sprechblasen, die aus den 30 samo.fa-Projektstädten mit nach Berlin gekommen waren – und über die die lokalen Projektkoordinatoren in der Kulturbrauerei mit Gästen wie Werner Schiffauer, Professor für Kultur- und Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Vorsitzender des Rats für Migration, aber auch Integrationsbeauftragten aus Bund, Ländern und Kommunen diskutierten.

Ungeklärter Familiennachzug, fehlende Wohnungen, zu wenige Sprachkurse in oft mangelhafter Qualität, keine Möglichkeit, Traumata behandeln zu lassen, weil Therapieplätze Mangelware sind. „Es gibt noch viele Hürden, die Geflüchteten das Ankommen im Alltag in Deutschland erschweren“, sagt Elizabeth Beloe, samo.fa-Netzwerkbegleiterin für die Region Nordost.

Aber auch Efolge des Projekts wurden präsentiert, zum Beispiel in Hannover, wo Bäckerinnung und Migrantenorganisationen ein Ausbildungsvereinbarung geschlossen haben: Durch sie finden norddeutschen Bäcker Auszubildende im Mangelberuf finden und die Geflüchteten eine Bleibeperspektive. Beim Deutschlernen und den Anforderungen der Berufsschule unterstützt ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen des samo.fa-Projektes.

Oder durch Angebote wie SmartFit in Dortmund, das bei regelmäßigem Fitness-Training Ernährungsberatung zum noch ungewohnten Lebensmittelangebot im neuen Land macht –  weil Zugewanderte aus einigen Ländern Übergewicht als Zeichen von Wohlstand sehen und sich dadurch sehr ungesund ernähren, erklärt der Dortmunder samo.fa-Koodinator Armel Djine. „Diese Prävention ist dringend notwendig, um Krankheiten wie Diabetes vorzubeugen.“ Bei Geflüchteten, aber auch bei allen anderen Bewohnern der Stadt – das Angebot ist für alle offen. „Es geht auch um das Zusammenleben vor Ort.“

Im samo.fa-Projekt sind mittlerweile mehr als 300 Vereine in 30 verschiedenen Städten organisiert, die in 2017 mit ihren rund 1.000 Workshops und Beratungsangeboten rund 36.000 Geflüchtete erreichten – und ihr Wissen bei bundesweiten Veranstaltungen wie der Dialogkonferenz untereinander austauschen.

Aber: „Migrantenorganisationen sind bislang die Juniorpartner in der Flüchtlingshilfe – die gerne mithelfen, aber nur wenig mitbestimmen dürfen“, sagte Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration in seinem Konferenzvortrag. Dass sie bei der Integration von Neuzuwanderern dringend gebraucht werden, sei zwar mittlerweile im politischen und gesellschaftlichen Diskurs angekommen, sagt der Kulturwissenschaftler.

Eine große Baustelle sei allerdings die Strukturförderung von Migrantenselbstorganisationen: Ohne Teil von dauerhaften kommunalen Regelangeboten zum Beispiel als Bildungsträger zu sein, werde nachhaltige Arbeit ausgebremst – und die Migrantenorganisationen blieben Helfer statt Gestalter. Auch daran arbeitet samo.fa. „Dadurch, dass wir uns in den verschiedenen Arbeitsfeldern weiter professionalisieren und in Netzwerken zusammenschließen, können wir diese Rolle verlassen“, sagt Dilek Boyu, NeMO-Vorstandsmitglied und Vorsitzende der Brücke der Kulturen Hildesheim – ebenfalls ein samo.fa-Partner.

Die Forderungen und Vorschläge der Geflüchteten und Ehrenamtlichen auf den Sprechblasen der 30 Projektstädte und den Gesprächen der Konferenz gehen als Handlungsempfehlungen an die künftige Bundesregierung – deren Koalitionsbildungs-Dialoge am vergangenen Wochenende allerdings weniger konstruktiv gelaufen sind.

mib

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Die Teilnehmer*innen der Dialogkonferenz sprachen in der Kulturbrauerei auch über die vielen Herausforderungen, die die Geflüchteten in den lokalen Konferenzen der letzten zwei Monate auf Sprechblasen geschrieben haben. Für Berlin wurden diese Forderungen gesammelt und als Diskussionsgrundlage zusammengetragen. Foto: Nicole Grote.

Zu der bundesweiten Dialogkonferenz waren alle Koordinator*innen der 30 samo.fa Standorte geladen, um sich über ihre Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit auszutauschen und öffentlich zu diskutieren. Foto: Nicole Grote

In verschiedenen Gesprächsrunden diskutierten Vertreter*innen des Projekts und aus Politik und den Städten über die Rolle von Migrantenorganisationen für die Flüchtlingsarbeit. Foto: Nicole Grote.

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