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Gewalt und COVID-19: Frauen und Kinder mit und ohne Migrationsgeschichte in besonderen Risikolagen

By 10. April 2020

Bereits in der ersten Woche nach der offiziellen Umsetzung des Kontaktverbots und der Ausgangsbeschränkungen meldete sich die Dortmunder samo.fa-Koordinatorin Elaine Yousef beim Netzwerkbegleiter der Region West. Sie machte sich besondere Sorgen wegen der von ihr in Erfahrung gebrachten Fälle von häuslicher Gewalt: Sie hätten sich in den letzten Tagen erheblich erhöht. Dies berichteten dann schnell auch fast alle samo.fa-Standorte. Elaine Yousef berät zirka 90 Frauen mit Fluchtgeschichte in Dortmund. Frauen und Kinder mit Fluchtgeschichte erleiden die Doppelbelastung der Corona-Krise: Sie sind nicht nur gesundheitlich, sondern auch gesellschaftlich auf mehrere Weise gefährdet. Häusliche Gewalt ist einer dieser Risikofaktoren. Das Problem betrifft auch Männer, jedoch in einem geringerem Ausmaß.

Globaler Alarm, lokale Erfahrung

Seit mehreren Tagen wird weltweit wegen des neuen Ausbruchs häuslicher Gewalt von verschiedenen Behörden, Medien und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren in der Öffentlichkeit Alarm geschlagen. Deutschland ist nicht die Ausnahme. Die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Ängste, die Mobilitätseinschränkungen, die Enge der Wohnung für mehrköpfige Familien, die Schließung von Kitas und Schulen, die Zukunftsunsicherheit und die Vertiefung von Entfremdungsgefühlen sind wichtige Gründe für die Vermehrung von Auseinandersetzungen, Konflikten und demnach von unterschiedlichen Formen häuslicher Gewalt. Dieser Alarm wird von professionellen Betreuerinnen und Betreuern bestätigt, die aktuell eine substanzielle Zunahme der Fälle erleben. Trotz relevanter Fortschritte im Sinne der dezentralen Unterbringung von Familien mit Fluchterfahrung ist die bestehende Existenz von massiv bewohnten Geflüchteteneinrichtungen zu überwinden. Es gibt zwar Fortschritte im Hinblick auf die dezentrale Unterbringung von Familien mit Fluchterfahrung; für die weiterhin bestehenden, engen Gemeinschaftsunterkünfte muss dringend eine andere Lösung gefunden werden. Enge, Isolation und Abwesenheit einer Privatsphäre in diesen Einrichtungen (einige davon noch dazu in Quarantäne) verschlechtern die sozialen Risikolagen innerhalb der Pandemie.1

Öffentliche Sorge in Deutschland

In Deutschland fördern die Bundesfamilienministerin, Dr. Franziska Giffey, und die Bundesintegrationsbeauftragte, Annette Widmann-Mauz, die Stärkung von Hilfestrukturen und Unterstützungsangeboten für Frauen mit und ohne Migrationsgeschichte. Die verschiedenen Formen der genderspezifischen Gewalt müssen entschieden bekämpft werden. Seitens des Ministeriums werden Frauenhäuser, Fachberatungsstellen sowie andere Infrastrukturen bundesweit mit 120 Millionen Euro extra durch Personal, Kapazitäten und Ressourcen von 2020 bis 2023 besser ausgerüstet. Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie machte Frau Widmann-Mauz auf die mehr als 100 Empowerment-Projekte für gewaltbetroffene Frauen aufmerksam. Die Programme werden demnächst fortgesetzt und gestärkt unter dem Motto „Für Gewalt gegen Frauen gibt es null Toleranz“.2

Ansätze und Beitrag von samo.fa (heute: samofa+)

Die Stärkung von Unterstützungs- und Teilhabestrukturen für Menschen mit Fluchtgeschichte gilt seit 2016 als ein Hauptziel von samo.fa. Im Jahre 2019 erzielte das Projekt die Weiterentwicklung von Mechanismen zur Selbstermächtigung und eine effektive Einbindung bzw. Vermittlung in das Regelsystem des deutschen Wohlfahrtstaates. Die Frage der Menschen- und Asylrechte stand im Fokus. In den Jahren 2020-21 kommt ein neuer Akzent im Rahmen der neuen Phase des Projektes samo.fa+ hinzu: Besonders schutzbedürftige Gruppen werden adressiert, u.a. Frauen, Kinder, Jugendliche und LSBTTI*-Communities. Bundesweit haben sich die samo.fa Koordinierungsstellen in mehr als 34 Städten als migrantische Schutzräume gegen verschiedene Formen der Gewalt bewährt: Nämlich gegen körperliche, sexuelle und psychische (aber auch verbale!) Gewalt.

Zusammenarbeit von Staat, Zivilgesellschaft und samo.fa+ angesichts der Corona-Krise

Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Behörden, zivilgesellschaftlichen Playern und migrantischen Organisationen zum Gewaltschutz und zur Prävention in diesem Bereich intensiviert werden? Konkret heißt es jetzt, dass die samo.fa Koordinierungsstellen (bzw. Anlaufstellen) enger, koordinierter und ergänzend zu öffentlichen und sozialen Einrichtungen, zivilgesellschaftlichen Expertinnen und Experten (z.B. Universitäten) sowie etablierten Fachberatungsstellen und Frauenhäusern zusammenarbeiten müssen. Dynamischer Austausch und ein bedarfsgerechter Informationsfluss ermöglichen eine unmittelbare professionelle Beratung bzw. Verweisberatung. In diesem Zusammenhang werden verschiedene, kreative Mechanismen der Kommunikation weiterentwickelt (auch im Corona-Modus via Telefon/Handy, Internet, Video, Webinaren und WhatsApp – siehe unten eine Auflistung von wichtigen Kontaktstellen und Adressen). Mit Hilfe der zirka 1500 Aktiven von samo.fa müssen darüber hinaus weitere entscheidende Schritte zum Aufbau eines bundeweiten Frühwarnsystems gegen Gewalt und Rassismus gemacht werden. Familien, Freundschaften und Nachbarschaften gelten allerdings immer noch als erste gesellschaftliche Seismographen und Unterstützungssäulen für die Gewaltbetroffenen.

Mittel- und langfristige Aufgaben zur Überwindung von alten und neuen Gewaltstrukturen

Für die Zeit nach Corona- d müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden. Erstens ist die interkulturelle Aufklärung und Sensibilisierung eine langfristige Herausforderung nicht nur für die Neuzugewanderten, sondern auch für die öffentlichen Institutionen und die Zivilgesellschaft insgesamt. Zweitens muss der Prozess der Öffnung von migrantischen Organisationen zugunsten einer breiten migrations- und teilhabepolitischen Agenda vertieft werden. Alle Teilnehmenden der Einwanderungsgesellschaft tragen aktiv zu einem inklusiven, gleichberechtigten und transkulturellen Dialog bei, der sowohl gender- und rassismuskritisch als auch benachteiligungssensibel orientiert ist. Es geht nicht nur um das Kennenlernen der „deutschen“ Werte, Regeln und Gesetze seitens der Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Kritisch und gegenseitig mit dem unverzichtbaren Erfahrungswert von anderen Menschen mit Migrationsbiographien und migrantischen Organisationen sollen die Neuzugewanderten auf dem langwierigen Weg zur Normalisierung des Alltags begleitet werden. Dazu sagt der lokale Koordinator aus Bochum MustafaBirhîmeoglu: „Die Emanzipation in der Diaspora muss begleitet werden […!!]“. Nachdrücklich geht es hier nicht um Bevormundung, sondern um einen gleichberechtigen Erfahrungsaustausch. Die genderspezifische Gewalt mit ihren historischen Hintergründen und den aktuellen interkulturellen Krisenbedingungen verlangt eine Betrachtung dieser vielschichtigen Herausforderungen. AO

Hilfe bei häuslicher Gewalt:

  • In bedrohlichen Situationen gilt: Sofort den Notruf der Polizei 110 wählen.
  • Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet eine kompetente, anonyme und kostenlose Beratung unter der Nummer 08000-116016.
  • Auch die bundesweit vertretenen Frauenberatungsstellen sind Anlaufstellen für betroffene Frauen und Menschen, die Gewalt an Frauen beobachten.
  • Frauenhäuser bieten Frauen Schutz vor weiterer Gewalt.
  • Sind Kinder von häuslicher Gewalt betroffen, bieten die Jugendämter Beratungen an – auch anonym und telefonisch.
  • Psychologische Beratung: Kostenlose Telefonnummer 0800 111 0 111 (Telefonseelsorge). Angebote auch unter: telefonseelsorge.de
  • Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im SHG-Klinikum Merzig hat ein „Krisentelefon zur Coronakrise“ eingerichtet. Täglich von 9 bis 17 Uhr unter Tel. (06861) 705-1751 und 705-1991
  • Zum Kinderschutz: Der Kinderschutzbund Bundesverband (https://www.dksb.de/de/startseite/) sowie E-Learning Kinderschutz (https://elearning-kinderschutz.de/)
  • Gewaltberatung für Männer: https://ksd-sozial.de/familien/gewaltberatung-fuer-maenner/

1 DaMigra (Dachverband der Migrantinnen*organisationen) und Proasyl fordern eine vollständige dezentrale Unterbringung für Menschen mit Fluchtgeschichte. Siehe: https://www.damigra.de/meldungen/wir-sind-systemrelevant-und-jeden-schutz-wert/ (12.04.20); https://www.proasyl.de/news/covid-19-und-fluechtlingspolitik-was-deutschland-jetzt-machen-muss/ (12.04.20).

2 Siehe: Schutz für geflüchteten Frauen. Widmann-Mauz: „Frauen wirksam vor Gewalt schützen“, in: https://www.integrationsbeauftragte.de/ib-de/themen/projekte-und-forschung/projekte/widmann-mauz-frauen-wirksam-vor-gewalt-schuetzen–1585002 (13.04.2020); „Dr. Franziska Giffey: Frauenhäuser und Beratungsstellen sind systemrelevant“, in: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/dr–franziska-giffey–frauenhaeuser-und-beratungsstellen-sind-systemrelevant/154624 (13.04.2020).

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