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Corona-Krise: Ehrenamtlich Aktive so dringend gebraucht wie seit 2015 nicht mehr. Aus den samo.fa – Standorten

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„Es wollen aber viele Ehrenamtliche in dieser extrem schwierigen Zeit etwas Gutes tun. Sie standen telefonisch und digital in schwierigen Zeiten den Menschen mit junger Fluchtbiographie zur Seite. Sie wurden zu Personalberater*innen und wenn es nötig war, auch zur ‚Telefonseelensorge‘…“, so wird z.B. aus Halle (Saale) berichtet. Da klingt an, was 2015/2016 im Zentrum stand: nämlich die große Unterstützungsbereitschaft und die selbstverständliche Solidarität mit Menschen in einer schwierigen Lage.

Menschen mit Fluchtgeschichte, die Unterstützung dringend brauchen und Aktive, die handeln: trotz Ähnlichkeiten ist die Situation in der Corona-Krise in vieler Hinsicht ganz anders als 2015. Das wird aus den Berichten von „vor Ort“ sehr deutlich: Die Corona-Krise betrifft beide Seiten: die Aktiven sind selbst Betroffene der Krise, als Personen, die mit ihren Familien selbst unter dem lock-down leiden, aber auch als engagierte Aktive, die jene, die sie bisher unterstützt haben, nicht mehr persönlich treffen können, und als Mitwirkende in Vereinen und bei samo.fa, deren bisherige Arbeitsweise von einem zum anderen Tag unterbrochen wird. So wurde mit den Kontakteinschränkungen, wie z.B. aus Köln berichtet wird, seit dem 13. März den Ehrenamtlichen der Zugang zu den Gemeinschaftsunterkünften untersagt.

So wie die samo.fa-Standorte ihre Arbeit neu aufstellen mussten, mussten die Aktiven darin unterstützt und zum Teil dafür motiviert werden, trotz aller Schwierigkeiten Kontakte zu halten oder auch neue Kontakte aufzunehmen. Mit dem massiven Ausbruch der Krise landeten die Menschen, die bisher begleitet und unterstützt wurden, in einer krassen Situation, die in verschiedener Hinsicht belastender erschien und erscheint als noch die schwierige Ankunftssituation vor einigen Jahren: die Corona-Krise und ihre Folgen drohte und droht sie in dem mühsamen Prozess des Ankommens zurückzuwerfen: gesundheitlich, sozial und beruflich.

Von daher war und ist die Aufgabe der ehrenamtlich Aktiven jetzt und in der nächsten Zukunft sehr herausfordernd, sie war und ist eine neue Form der Nachbarschaftshilfe „auf Abstand“. „In der Pandemiezeit bekam diese Nachbarschaftshilfe eine besondere Bedeutung. Diese Art von ehrenamtlicher Arbeit stellte gleichzeitig eine Herausforderung für die Ehrenamtlichen dar, weil hier alle ihre Stärken gefordert waren“, heißt es hierzu aus Köln, und ähnlich Stralsund.

Nun sind die ehrenamtlich Aktiven von 2020 nicht mehr die von 2015/2016, auch, wenn es sich z.T. um dieselben Personen handelt: sie haben ihre Fähigkeiten weiterentwickelt, zu den Teams der Ehrenamtlichen sind Neue hinzugekommen, mit speziellen Kompetenzen und/oder mit eigener unmittelbarer Fluchtgeschichte. An vielen Standorten wird nach wie vor großer Wert auf eine gute Begleitung der Ehrenamtlichen gelegt und dies in der Corona-Zeit noch verstärkt: so wurde z.B. in Kiel der „Takt“ des Treffens des samo.fa-Clubs von monatlich auf vierzehntägig verkürzt und als Videochat durchgeführt. An manchen Orten meldeten sich auch Ehrenamtliche „zurück“, die in der letzten Zeit nicht mehr kontinuierlich mitgemacht hatten.

Im Grunde war samo.fa an seinen Standorten also gut gerüstet, um das zu tun, was zunächst unmittelbar und rasch getan werden musste: über Corona und die erforderlichen und angeordneten Maßnahmen in einem breiten Spektrum von Herkunftssprachen zu informieren oder z.B. als Dolmetscher*in bei Corona-Hotlines  wie in Lübeck oder Potsdam zu wirken. Dann ging es um, wie aus Münster berichtet wird: „Kontakte zu den schwer erreichbaren Migrant*innen und Geflüchteten durch intensive telefonische Gespräche und Vermittlung der aktuellsten Informationen in verschiedenen Sprachen über Sicherheitskonzept, Mundschutzpflicht, Abstandsgebot, hygienische Standards und Infektionsschutzmaßnahmen“.

Und nachfolgend entstanden vielfältige Aktivitäten, wie Maskennähen, Hausaufgabenhilfe per Skype, oder auch, wie aus z.B. aus Hildesheim berichtet wird, Begleitung und Organisation bei Beerdigungen. Je länger der lock-down andauerte, umso bedrängender wurde zum Teil die häusliche Situation, und die ehrenamtlich Aktiven, wie aus Münster berichtet wird, „führen telefonische Gespräche, wie man in einem engen Raum mit der ganzen Familie ohne Konflikte und Haushaltsgewalt zusammenhalten kann“. (Zu den vielfältigen Aktivitäten siehe auch die weiteren Beiträge .

Mit der allmählichen Lockerung werden nun alle jene Befürchtungen und Sorgen greifbarer, die mit den sozialen Risiken verbunden sind, die der Corona-Krise nachfolgen. Dies wird die ehrenamtlich Aktiven noch einmal in besonderer Weise fordern: ihr verstärktes Engagement wird auch in den nächsten Monaten gänzlich unverzichtbar sein. WK

BV NeMO: Kommunale Handlungsfähigkeit zentral Brief an Leipzigs OB und  Präsident des Deutschen  Städtetags

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Der Vorstand des BV NeMO erklärt in einem Schreiben an Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Präsident des Deutschen Städtetags: „dass wir die Notlage, in der sich viele Kommunen nicht nur, aber vor allem verstärkt durch die Corona-Krise befinden, sehen und in der Forderung nach nachhaltiger Unterstützung für die Sicherung kommunaler Handlungsfähigkeit an Ihrer Seite sind.“

Der BV NeMO als Zusammenschluss lokaler Verbünde weiß, wie zentral diese Handlungsfähigkeit „vor Ort“ insbesondere auch für die Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte ist. Er schlägt vor, in einem Gespräch „Punkte gemeinsamen Interesses“ zu erörtern. Anlass des Briefs waren auch „Fragen zur Prävention und Schutzstrategien in Gemeinschaftsunterkünften in Leipzig“, mit denen sich Migrant*innenvereine und samo.fa Anfang Mai an den Oberbürgermeister gewandt hatten.

Der Brief ist hier zu lesen.

Alltagsrassismus in der Corona-Krise. Einige Beobachtungen

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Das bundesweit in mehr als 30 Städten seit 2016 laufende Projekt „Aktive aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit“ (samo.fa) ist nahe bei den Menschen mit Flucht- und Einwanderungsgeschichte. Rassismus ist also stets ein Thema.

Aufgrund der Befürchtungen, dass mit gesellschaftlichen Krisen Rassismus stärker wird, wurden die lokalen Koordinator*innen von samo.fa gebeten, ihre aktuellen Beobachtungen mitzuteilen. Bisher – so das vorläufige Ergebnis- ist kein dramatischer Anstieg manifester rassistischer Angriffe dokumentiert, was möglicherweise auch mit dem shutdown und den damit verbundenen sozialen Abständen zu tun hat. Es besteht aber verbreitet – gestützt auf die vielen Kontakte, die zu den Menschen mit Einwanderungsgeschichte bestehen – der Eindruck, dass abwertende und feindliche Verhaltensweisen zunehmen. Dafür spricht auch, dass vor allem zu Beginn der Corona-Krise die Zahl der Hass-Mails in den Sozialen Medien  angestiegen ist. Die Aussage aus einer Stadt: Es könne kein Anstieg berichtete werden, es sei so schlimm wie immer, steht für sich selbst.

Die Angriffe, die beobachtet oder auch dokumentiert sind, sprechen allerdings eine deutliche Sprache: In Verbindung mit der Corona-Krise zielt rassistische Diskriminierung vor allem auch im Alltag darauf, Menschen, denen Fremdheit zugeschrieben wird, für Gefährdungen des deutschen „Wir“ verantwortlich zu machen. Es geht hier also um viel mehr als Vorurteile oder Unwissenheit: Rassismus rechtfertigt und betreibt Diskriminierung und Ausgrenzung. Dabei trifft – in ziemlich umfassenden Sinne – Alltagsrassismus jene Menschen, die man aufgrund den ihnen zugeschriebenen Merkmalen und Eigenschaften oder dem bloßen Augenschein mit der gesellschaftlichen Problemlage in Verbindung bringen kann oder will.

Nicht verwunderlich ist es also, dass zunächst vor allem Menschen, denen ein asiatischer Hintergrund zugeschrieben wird, betroffen sind. Diese Fälle scheinen sich zu häufen; da aber Alltagsrassismus oftmals, so verletzend und bedrohlich er ist, gewissermaßen „nebenbei“ geschieht, wird die Dunkelziffer erheblich sein. Ein vietnamesischer Mann, der mit Mundmaske in der U-Bahn fuhr, berichtet z.B., dass er als „Corona-Chinese“ beschimpft wurde; im Supermarkt wird einkaufenden Frauen nachgerufen: „Da! Corona kommt!“, eine Familie aus Vietnam wird gebeten, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken, usw.,usw.

Es sind vor allem verbale Übergriffe, die zugenommen haben, aber auch demonstrative räumliche Distanzierung. So berichtet der „Tagesspiegel“ (vom 18.4.2020) über die Erfahrungen einer deutschen Frau mit vietnamesischer Familienherkunft: „Zunächst fiel es ihr in der U-Bahn auf. Menschen, die sich nach dem Einsteigen zu ihr setzten oder direkt gegenüber, standen wieder auf, sobald sie bemerkten, wer da neben ihr war. Wechselten den Wagen, stellten sich zur Not ins Fahrradabteil, bloß, um ihr nicht zu nah sein müssen. Beim ersten Mal hielt sie das für Zufall. Nach dem fünften Mal nicht mehr.“  Aber auch sind  – so wird ebenfalls berichtet –z.B. Italiener*innen Anfeindungen ausgesetzt.

Nimmt man jene Beobachtungen hinzu, die „vor Ort“ vor Beginn der Corona-Krise gemacht wurden, nämlich eine wachsende Gleichgültigkeit geflüchteten Menschen gegenüber und ein Anstieg rassistischer Gewalt – vor allem auch gegenüber Mitbürger*innen muslimischen Glaubens – , dann ist zu befürchten, dass völkisch-rassistische Ressentiments gerade im langwierigen Corona-Exit-Prozess zunehmen, weil zu den fortbestehenden gesundheitlichen Risiken und den damit verbundenen Kontrollen  dann manifeste wirtschaftliche Notlagen und Belastungen der Sozialsysteme hinzutreten. Es wundert nicht, dass die AfD schon jetzt gegen die Aufnahme von Kindern aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln Front macht.

Ein besonders widerwärtiger Fall rassistischer Verbalgewalt wird von samo.fa aus Hannover übermittelt: In der hannoverschen Südstadt wurden Briefe verteilt, die als Absender eine „Nationalsozialistische Offensive“ nannten und sich an Migranten mit der Ankündigung wandten, sie „zu beseitigen“. Die Polizei ermittelt und die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (vom 5.5.2020) zitiert einen Polizeisprecher: Im Text werde „massiv fremdenfeindlich gegen Ausländer gehetzt“.

Als Reaktion auf die rechtsterroristischen Morde in Hanau hatte die Bundesregierung einen Kabinettsausschuss „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ gebildet. Der Bundesregierung sind die Entwicklungen der letzten Wochen bekannt. In seiner Positionierung zur „Corona-Krise“ vom 8. April hat der Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen festgestellt: „Das Zurückdrängen von Rassismus, Menschenfeindlichkeit und völkischem Nationalismus bleibt auch – oder gerade – in dieser Krise eine zentrale Herausforderung“.

Der Kabinettsausschuss hat bisher noch nicht getagt. Auf Anfragen von Bundestagsabgeordneten ließ der Bundesinnenminister nach Darstellung des „Tagesspiegel“ vom 4.Mai 2020 wissen, die erste Sitzung des Kabinettsausschusses werde zeitnah stattfinden. wk

Corona: Menschen mit Fluchtgeschichte in besonderen Risikolagen

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13.April 2020. Aktuelle Berichte aus den samo.fa-Standorten geben wichtige Hinweise auf Problemlagen, die gesundheitliche und soziale Risiken bedeuten oder in der Folge werden können. Es sind insbesondere folgende Problemlagen, auf die aufmerksam gemacht wird:

  • Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen, sogenannten ANKER-Zentren und Gemeinschaftsunterkünften sind aufgrund der Enge der Wohnverhältnisse und der gemeinschaftlichen Nutzung von Toiletten, Waschräumen und Küchen in besonderer Weise von Ansteckung bedroht. Zum Teil fehlt es auch an einfachen hygienischen Vorkehrungen. Ausgangs- und Kontakteinschränkungen und insbesondere Quarantäne-Maßnahmen und deren Überwachung führen rasch zu kollektiver Unruhe und Panik. Ehrenamtlich Aktiven wird oftmals der Zugang verweigert; sie müssen die Kontakte zu den von ihnen Betreuten auf andere Weise neu aufbauen.

  • Demgegenüber sind Menschen mit Fluchtgeschichte, die zwischenzeitlich in Wohnungen gezogen sind oder aktuell dorthin oder in Hotels eingewiesen werden, in der Regel gegen Ansteckung besser geschützt. Ihre Isolierung schneidet sie aber von bisherigen Informationswegen ab; es ist wesentlich schwieriger, sie zu erreichen und mit ihnen Kontakt zu halten.

  • Eine schwache Beherrschung der deutschen Sprache macht es gerade in der Corona-Krise schwierig, Kontakte zu halten und Erkundigungen einzuholen, weil diese vor allem telefonisch oder per Mail erfolgen müssen. Sich verständlich zu machen, ist z.B. bei Telefongesprächen wesentlich schwieriger als in der persönlichen Begegnung. – In den Gemeinschaftsunterkünften fehlt es oft an einer ausreichenden Ausstattung mit Laptops; Menschen mit Flucht- und Einwanderungsgeschichte besitzen selten eigene Laptops.

  • Wichtige Kontakte mit Behörden, der Agentur für Arbeit, der Bank und mit Beratungsstellen erfordern zumeist Anrufe oder E-Mail-Sendungen. Neben den Verständigungsproblemen führt der Umstand, dass diese Einrichtungen im Corona-Modus arbeiten und oftmals überlastet sind, zu besetzten Leitungen und langen Zeiten in der Warteschleife. Das verunsichert und macht auch Angst, bestimmte für die Lebensorganisation wichtige Angelegenheiten nicht oder nicht termingerecht erledigen zu können.

  • Die finanzielle Situation ist in vielen Familien mit Fluchtgeschichte angespannt; dies verschärft sich bei fortdauerndem SGB-II-Bezug oder Kurzarbeit. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass viele finanziell auch noch ihre Verwandten im Herkunftsland unterstützen.

  • Es gibt Hinweise, dass „häusliche Gewalt“, die sich gegen Frauen und Kinder richtet, zunimmt. So unentschuldbar und nicht hinnehmbar sie ist, muss doch gesehen werden, dass sie insbesondere die Folge engen Zusammenlebens über längere Zeit, aber auch der wachsenden existentiellen Sorgen ist. Die Frauenhäuser sind voll und die üblichen Beratungseinrichtungen aufgrund der Reduzierung oder Streichung von persönlichen Sprechzeiten sehr viel schwieriger zu erreichen. Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass Frauen mit Fluchtgeschichte, die noch nicht lange in Deutschland leben, (noch) eine größere Ferne zu Behörden und Sozialeinrichtungen insgesamt haben; es ist aber auch die Frage, ob und wie Einrichtungen der Notfallhilfe interkulturell aufgestellt sind.

  • Mit Schließung der Schulen sind die Eltern aufgefordert, ihre Kinder beim Lernen im Fernlern-Modus zu unterstützen. Für viele Eltern ohne und vor allem auch mit Fluchtgeschichte ist dies eine Überforderung, vor allem, wenn dieser Zustand noch länger andauert, und vor allem in Bezug auf jüngere Kinder, die ihre Fähigkeiten zum Selbstlernen erst noch ausbilden müssen. Neben dem Umstand, dass das häusliche Lernen von Kindern unter beengten Verhältnissen konflikthaltig ist, werden in der Folge Nachteile für die Bildungswege dieser Kinder befürchtet.

Diese Problemlagen stellen auch für Aktiven aus Migrantenorganisationen, die sich seit Jahren in der Flüchtlingsarbeit engagieren, schwierige Herausforderungen dar. Mit Beispielen, die auf dieser samo.fa-Homepage fortlaufend vorgestellt werden, wird dokumentiert, wie die Aktiven vor Ort differenziert, fantasiereich und energisch auf die außerordentliche Krisensituation reagieren.

Gewalt und COVID-19: Frauen und Kinder mit und ohne Migrationsgeschichte in besonderen Risikolagen

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Bereits in der ersten Woche nach der offiziellen Umsetzung des Kontaktverbots und der Ausgangsbeschränkungen meldete sich die Dortmunder samo.fa-Koordinatorin Elaine Yousef beim Netzwerkbegleiter der Region West. Sie machte sich besondere Sorgen wegen der von ihr in Erfahrung gebrachten Fälle von häuslicher Gewalt: Sie hätten sich in den letzten Tagen erheblich erhöht. Dies berichteten dann schnell auch fast alle samo.fa-Standorte. Elaine Yousef berät zirka 90 Frauen mit Fluchtgeschichte in Dortmund. Frauen und Kinder mit Fluchtgeschichte erleiden die Doppelbelastung der Corona-Krise: Sie sind nicht nur gesundheitlich, sondern auch gesellschaftlich auf mehrere Weise gefährdet. Häusliche Gewalt ist einer dieser Risikofaktoren. Das Problem betrifft auch Männer, jedoch in einem geringerem Ausmaß.

Globaler Alarm, lokale Erfahrung

Seit mehreren Tagen wird weltweit wegen des neuen Ausbruchs häuslicher Gewalt von verschiedenen Behörden, Medien und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren in der Öffentlichkeit Alarm geschlagen. Deutschland ist nicht die Ausnahme. Die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Ängste, die Mobilitätseinschränkungen, die Enge der Wohnung für mehrköpfige Familien, die Schließung von Kitas und Schulen, die Zukunftsunsicherheit und die Vertiefung von Entfremdungsgefühlen sind wichtige Gründe für die Vermehrung von Auseinandersetzungen, Konflikten und demnach von unterschiedlichen Formen häuslicher Gewalt. Dieser Alarm wird von professionellen Betreuerinnen und Betreuern bestätigt, die aktuell eine substanzielle Zunahme der Fälle erleben. Trotz relevanter Fortschritte im Sinne der dezentralen Unterbringung von Familien mit Fluchterfahrung ist die bestehende Existenz von massiv bewohnten Geflüchteteneinrichtungen zu überwinden. Es gibt zwar Fortschritte im Hinblick auf die dezentrale Unterbringung von Familien mit Fluchterfahrung; für die weiterhin bestehenden, engen Gemeinschaftsunterkünfte muss dringend eine andere Lösung gefunden werden. Enge, Isolation und Abwesenheit einer Privatsphäre in diesen Einrichtungen (einige davon noch dazu in Quarantäne) verschlechtern die sozialen Risikolagen innerhalb der Pandemie.1

Öffentliche Sorge in Deutschland

In Deutschland fördern die Bundesfamilienministerin, Dr. Franziska Giffey, und die Bundesintegrationsbeauftragte, Annette Widmann-Mauz, die Stärkung von Hilfestrukturen und Unterstützungsangeboten für Frauen mit und ohne Migrationsgeschichte. Die verschiedenen Formen der genderspezifischen Gewalt müssen entschieden bekämpft werden. Seitens des Ministeriums werden Frauenhäuser, Fachberatungsstellen sowie andere Infrastrukturen bundesweit mit 120 Millionen Euro extra durch Personal, Kapazitäten und Ressourcen von 2020 bis 2023 besser ausgerüstet. Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie machte Frau Widmann-Mauz auf die mehr als 100 Empowerment-Projekte für gewaltbetroffene Frauen aufmerksam. Die Programme werden demnächst fortgesetzt und gestärkt unter dem Motto „Für Gewalt gegen Frauen gibt es null Toleranz“.2

Ansätze und Beitrag von samo.fa (heute: samofa+)

Die Stärkung von Unterstützungs- und Teilhabestrukturen für Menschen mit Fluchtgeschichte gilt seit 2016 als ein Hauptziel von samo.fa. Im Jahre 2019 erzielte das Projekt die Weiterentwicklung von Mechanismen zur Selbstermächtigung und eine effektive Einbindung bzw. Vermittlung in das Regelsystem des deutschen Wohlfahrtstaates. Die Frage der Menschen- und Asylrechte stand im Fokus. In den Jahren 2020-21 kommt ein neuer Akzent im Rahmen der neuen Phase des Projektes samo.fa+ hinzu: Besonders schutzbedürftige Gruppen werden adressiert, u.a. Frauen, Kinder, Jugendliche und LSBTTI*-Communities. Bundesweit haben sich die samo.fa Koordinierungsstellen in mehr als 34 Städten als migrantische Schutzräume gegen verschiedene Formen der Gewalt bewährt: Nämlich gegen körperliche, sexuelle und psychische (aber auch verbale!) Gewalt.

Zusammenarbeit von Staat, Zivilgesellschaft und samo.fa+ angesichts der Corona-Krise

Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Behörden, zivilgesellschaftlichen Playern und migrantischen Organisationen zum Gewaltschutz und zur Prävention in diesem Bereich intensiviert werden? Konkret heißt es jetzt, dass die samo.fa Koordinierungsstellen (bzw. Anlaufstellen) enger, koordinierter und ergänzend zu öffentlichen und sozialen Einrichtungen, zivilgesellschaftlichen Expertinnen und Experten (z.B. Universitäten) sowie etablierten Fachberatungsstellen und Frauenhäusern zusammenarbeiten müssen. Dynamischer Austausch und ein bedarfsgerechter Informationsfluss ermöglichen eine unmittelbare professionelle Beratung bzw. Verweisberatung. In diesem Zusammenhang werden verschiedene, kreative Mechanismen der Kommunikation weiterentwickelt (auch im Corona-Modus via Telefon/Handy, Internet, Video, Webinaren und WhatsApp – siehe unten eine Auflistung von wichtigen Kontaktstellen und Adressen). Mit Hilfe der zirka 1500 Aktiven von samo.fa müssen darüber hinaus weitere entscheidende Schritte zum Aufbau eines bundeweiten Frühwarnsystems gegen Gewalt und Rassismus gemacht werden. Familien, Freundschaften und Nachbarschaften gelten allerdings immer noch als erste gesellschaftliche Seismographen und Unterstützungssäulen für die Gewaltbetroffenen.

Mittel- und langfristige Aufgaben zur Überwindung von alten und neuen Gewaltstrukturen

Für die Zeit nach Corona- d müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden. Erstens ist die interkulturelle Aufklärung und Sensibilisierung eine langfristige Herausforderung nicht nur für die Neuzugewanderten, sondern auch für die öffentlichen Institutionen und die Zivilgesellschaft insgesamt. Zweitens muss der Prozess der Öffnung von migrantischen Organisationen zugunsten einer breiten migrations- und teilhabepolitischen Agenda vertieft werden. Alle Teilnehmenden der Einwanderungsgesellschaft tragen aktiv zu einem inklusiven, gleichberechtigten und transkulturellen Dialog bei, der sowohl gender- und rassismuskritisch als auch benachteiligungssensibel orientiert ist. Es geht nicht nur um das Kennenlernen der „deutschen“ Werte, Regeln und Gesetze seitens der Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Kritisch und gegenseitig mit dem unverzichtbaren Erfahrungswert von anderen Menschen mit Migrationsbiographien und migrantischen Organisationen sollen die Neuzugewanderten auf dem langwierigen Weg zur Normalisierung des Alltags begleitet werden. Dazu sagt der lokale Koordinator aus Bochum MustafaBirhîmeoglu: „Die Emanzipation in der Diaspora muss begleitet werden […!!]“. Nachdrücklich geht es hier nicht um Bevormundung, sondern um einen gleichberechtigen Erfahrungsaustausch. Die genderspezifische Gewalt mit ihren historischen Hintergründen und den aktuellen interkulturellen Krisenbedingungen verlangt eine Betrachtung dieser vielschichtigen Herausforderungen. AO

Hilfe bei häuslicher Gewalt:

  • In bedrohlichen Situationen gilt: Sofort den Notruf der Polizei 110 wählen.
  • Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet eine kompetente, anonyme und kostenlose Beratung unter der Nummer 08000-116016.
  • Auch die bundesweit vertretenen Frauenberatungsstellen sind Anlaufstellen für betroffene Frauen und Menschen, die Gewalt an Frauen beobachten.
  • Frauenhäuser bieten Frauen Schutz vor weiterer Gewalt.
  • Sind Kinder von häuslicher Gewalt betroffen, bieten die Jugendämter Beratungen an – auch anonym und telefonisch.
  • Psychologische Beratung: Kostenlose Telefonnummer 0800 111 0 111 (Telefonseelsorge). Angebote auch unter: telefonseelsorge.de
  • Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im SHG-Klinikum Merzig hat ein „Krisentelefon zur Coronakrise“ eingerichtet. Täglich von 9 bis 17 Uhr unter Tel. (06861) 705-1751 und 705-1991
  • Zum Kinderschutz: Der Kinderschutzbund Bundesverband (https://www.dksb.de/de/startseite/) sowie E-Learning Kinderschutz (https://elearning-kinderschutz.de/)
  • Gewaltberatung für Männer: https://ksd-sozial.de/familien/gewaltberatung-fuer-maenner/

1 DaMigra (Dachverband der Migrantinnen*organisationen) und Proasyl fordern eine vollständige dezentrale Unterbringung für Menschen mit Fluchtgeschichte. Siehe: https://www.damigra.de/meldungen/wir-sind-systemrelevant-und-jeden-schutz-wert/ (12.04.20); https://www.proasyl.de/news/covid-19-und-fluechtlingspolitik-was-deutschland-jetzt-machen-muss/ (12.04.20).

2 Siehe: Schutz für geflüchteten Frauen. Widmann-Mauz: „Frauen wirksam vor Gewalt schützen“, in: https://www.integrationsbeauftragte.de/ib-de/themen/projekte-und-forschung/projekte/widmann-mauz-frauen-wirksam-vor-gewalt-schuetzen–1585002 (13.04.2020); „Dr. Franziska Giffey: Frauenhäuser und Beratungsstellen sind systemrelevant“, in: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/dr–franziska-giffey–frauenhaeuser-und-beratungsstellen-sind-systemrelevant/154624 (13.04.2020).

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