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„Wir gestalten die Einwanderungsgesellschaft mit!“ Pressebericht zum Fachtag III „Langfristige Folgen von Flucht und Migration”

By 19. October 2021

Spätestens die Pandemie hat gezeigt: Migrantische Organisationen sind absolut unentbehrlich, wenn es um den Zugang zu den Angeboten der gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten geht!

Zu diesem Ergebnis kamen die Teilnehmer*innen des 3. Fachtags „Gesundheitsversorgung von Geflüchteten: Langfristige Folgen von Flucht und Migration“ im Rahmen der Kampagne „Wir gestalten die Einwanderungsgesellschaft mit!“ des Bundesverband NeMO, bei dem es um psychische Belastungen und Langzeitfolgen von Flucht und Migration in Zeiten von COVID-19 ging.

Zugang haben zu den Angeboten der Gesellschaft, sei es zu Bildung, zum Gesundheits-, Arbeits- oder zum Wohnungsmarkt, ist ein Anrecht aller Einwohner*innen Deutschlands. Für Menschen aus anderen Ländern jedoch nicht selbstverständlich. Durch die lokale Arbeit der samofa- Koordinator*innen und ihre lokalen Netzwerke von Aktiven haben sich in den letzten fünf Jahren die Zugänge in allen Bereichen verbessert. Gerade der Zugang zu präventiven Maßnahmen und zum Gesundheitssystem insgesamt ist dabei von besonderer, durchaus lebenswichtiger Bedeutung, denn alles andere kann ein Andauern von Leid, nachhaltige Verringerung der Lebensqualität und Schaden an der Gesundheit bedeuten.

Das erleben oft auch Geflüchtete. Sie haben häufig schwierige, manchmal traumatische Erfahrungen hinter sich, wenn sie nach Deutschland kommen. Sie müssen die psychische Belastung aus dem Verlust der Heimat, die Entfernung zur Familie, die Erfahrungen der Flucht verarbeiten. Hinzu kommt der Wunsch, im neuen Land anzukommen und Teil der Gesellschaft zu werden.
Als sei dies alles nicht schon komplex genug, muss seit zwei Jahren nun auch noch die Corona-Situation bewältigt werden.
Was bewirkt die Corona-Situation bei Menschen, die traumatisiert sind?

„Traumatisierungen führen zu Entwicklungsblockaden und einem Rückzug aus den Beziehungen. Somit wird Integration für traumatisierte Geflüchtete zu einer an sich unmöglichen Aufgabe.“, erläutert Diplom-Psychologin Noriko Blaue. Die erfahrene Traumatherapeutin ist ausgebildet in psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Psychotherapie und bietet in Frankfurt in der Flüchtlingsberatung im Haus am Weißen Stein für den Evangelischen Regionalverband psychologische Gespräche für erwachsene Geflüchtete an. Sie sagt aber auch: „Heilende Beziehungserfahrungen im Anschluss an das Geschehene sind erforderlich, um traumatische Erlebnisse verarbeiten zu können.“

Um aber Beziehungen zu knüpfen und zuzulassen, ist Vertrauen nötig. Vertrauen jedoch wurde rund um Corona stark strapaziert, viele widersprüchliche Behauptungen zu Infektionsketten, Impfstoffen, Verbreitungswegen etc. sind bis heute im Umlauf. Obendrein hat nun der Einfluss der Corona-Pandemie die psychische Belastung gerade für Geflüchtete nochmals verstärkt, denn die Abstandsregelungen haben zu Kontakteinschränkungen und sozialer Isolation geführt. „Isolation ist die Höchststrafe bei Traumatisierung und Integrationsanliegen.“, ergänzt Blaue.

Es wird deutlich, dass im Zusammenspiel von Fluchterfahrungen, Traumatisierung und der zusätzlichen Situation durch die Pandemie ein besonders hohes Maß an Glaubwürdigkeit erforderlich ist, um Geflüchtete mit den nötigen Informationen zu erreichen. Im empfindlichen Kontext von Gesundheit und Krankheit wird Vertrauen zum unerlässlichen Faktor, der den Zugang zu Menschen überhaupt erst ermöglicht.

Was aber sind Faktoren dafür, dass wir Menschen als glaubwürdig empfinden oder eben nicht?
Ein gängiger Mythos lautet: „Vertrauen entsteht irgendwo im Bauch, ist eine Frage der Intuition.“ Soso.
Tatsächlich setzt sich Vertrauen zusammen aus den Faktoren Integrität, Absichten, Fähigkeiten und Erfolgen.

Was macht nun migrantische Organisationen gerade in der Gesundheitsversorgung von Geflüchteten so besonders vertrauenswürdig?

Betrachten wir die Faktoren „Fähigkeiten“ und „Erfolge“ mal gesondert:
Migrantische Organisationen sind sprachkompetent und können Informationen an Menschen aus anderen Ländern nicht nur übersetzen, sondern so vermitteln, dass sie leicht verstanden werden. Die eigene Migrations- und oftmals auch Fluchterfahrung der Aktiven aus dem samofa-Netzwerk hat zudem viele weitere Kompetenzen des komplexen Ankommensprozess mit sich gebracht. Auch die lokalen Gesundheitsangebote sind bekannt und oft auch erprobt.

Unsere Erfolge: Die Fachtagreihe hat zahlreiche Beispiel guter und erfolgreicher Praxis aufgezeigt, die die lokalen samofa-Koordinator*innen in den letzten Jahren entwickelt und erprobt haben. So wurden in Berlin und Bielefeld Ansätze zur Vernetzung mit kommunalen und regionalen Gesundheitsnetzwerken initiiert, in Saarbrücken und Reutlingen wurden Aktive mit Migrationsgeschichte zu Multiplikator*innen für pädagogische und medizinische Themen ausgebildet, in Fulda wurden präventive Gruppenangebote für Frauen entwickelt und damit psychische Belastungen deutlich reduziert. In Nürnberg, Kassel und Saarbrücken klärt ein Netzwerk von Gesundheitsmitarbeitenden zu gesundheitlichen Risiken, auch jenseits der Corona-Informationen, auf.
Viele weitere Beispiele guter Praxis haben sich im Kompetenznetzwerk samofa entwickelt und werden innerhalb der Standorte transferiert. Auf der vierten und vorläufig letzten Fachtagung zum Thema „Nachhaltige Gesundheitsvorsorge von Geflüchteten in Zeiten der Pandemie: aus der Mitte von Migrant*innenorganisationen.“ am 19. November von 12.30 bis 16 Uhr werden weitere Beispiele vorgestellt. Auch soll mit den Akteur*innen der Gesundheitsversorgung darüber diskutiert werden, was und wer nötig ist für eine gleichberechtigte Teilhabe Geflüchteter an den Angeboten des Gesundheitssystems.

„Wir gestalten die Einwanderungsgesellschaft mit!“ ist daher keine leere Forderung, sondern eine Erkenntnis des samofa-Netzwerkes aus der lokalen Geflüchtetenarbeit der letzten Jahre.

Anmeldungen für die digitale Teilnahme am Fachtag am 19. November: schreiben Sie eine kurze Mail an m.moeller-oencue@bv-nemo.de.

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