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„Wir müssen dafür sorgen, dass Integrationsräte keine Alibi-Räte bleiben!“ – Interview mit Beatrix Butto

By 12. April 2019

Welche Erfahrungen haben Migrantenorganisationen mit Integrationsbeiräten gemacht: Sind sie ein zahnloser Tiger oder werden sie im Stadtrat ernst genommen und ermöglichen echte Teilhabe?

Beatrix Butto: Bei diesen Integrationsbeiräten – bezeichnet werden sie ja in jeder Kommune anderes – handelt es sich um beratende Gremien. In der Grundidee und in ihrer faktisch nicht vorhandenen Entscheidungsbefugnis unterscheiden sich diese Gremien nicht sonderlich viel, egal ob wir von Reutlingen, Saarbrücken, Stuttgart, Friedrichshafen oder einer anderen Stadt in Deutschland sprechen. Das Image und die Wirkung eines solchen Gremiums hängen in erster Linie von der Integrationspolitik der jeweiligen Kommune ab. Und das sieht man beispielsweise auch daran, wie diese Beiräte heute bezeichnet werden. In Stuttgart heißt dieses Gremium schon lange nicht mehr Ausländerbeirat und das verdanken wir einem sehr engagierten Stuttgarter Oberbürgermeister, Manfred Rommel, der in die Geschichte eingegangen ist mit dem Satz: „Wer in Stuttgart wohnt, ist ein Stuttgarter!“ Und dies geschah in einer Zeit, als in der Bundespolitik und in vielen Kommunen durch den Anwerbestopp von Gastarbeitern noch restriktive Maßnahmen gegen Migration ergriffen wurden. Integration ist mit der Gründung des bundesweit ersten „Ausländerbeirats“ 1972 quasi Chefsache gewesen und das wirkt sich noch bis in die heutige Zeit hinaus. Während in der ersten Generation noch fast jeder „Gastarbeiter“ am Fließband in Daimler schaffte, besetzen heute ihre Kinder und Enkelkinder nun die Stühle der Managementetagen. Die Wirtschaft hat viel schneller begriffen, dass man die Kompetenzen von Menschen mit Migrationsgeschichte und die Verbundenheit und Identifikation dieser Menschen mit der eigenen Stadt zu ihrem Vorteil nutzen kann. In den höheren Etagen der städtischen Verwaltung bildet sich diese Vielfalt noch nicht sonderlich ab, ein Punkt an dem noch einiges getan werden kann.

Offizielles Ziel ist es, die Interessen der Menschen ohne deutschen Pass in die Kommunalpolitik einzubringen. Trotzdem beteiligen sich viele erst gar nicht, weil die Gremien noch immer sehr unbekannt sind.

Beatrix Butto: Diese Gremien sind seit ihrer Entstehungszeit in den 70er Jahren nur beratend tätig. Aber tatsächlich waren sie eine Reaktion darauf, dass der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte stetig wuchs und die Forderung laut wurde, sie an der Kommunalpolitik zu beteiligen. Dass sie beraten und nicht entscheiden, hat sich bis heute nicht geändert. Geändert haben sich in vielen Städten jedoch die Bedingungen für die Mitgliedschaft in diesem “Club”. Waren es früher noch Bürgerinnen und Bürger ohne deutschen Pass, Vertreter von Communities und Migrantenvereinen, die sich dafür beworben haben; werden heute Einzelpersonen berufen. Man bezeichnet sie oft als „sachkundige Bürgerinnen und Bürger“ – berufen werden kann neben einem Uni-Professor, der vielleicht Migrationsgeschichte unterrichtet, vielleicht auch eine Rentnerin, die im Freundeskreis Asyl mithilft bis hin zu jedem, der oder die nicht mal eine Migrationsgeschichte haben muss. Meistens sind es Persönlichkeiten aus dem Bereich Migration und Integration, die berufen werden, so dass beispielsweise Mitglieder von Migrantenorganisationen gar nicht mehr in Frage kommen.

Und da sehe ich ein Problem, denn wer gibt diesen „sachkundigen Bürgerinnen und Bürgern“ die Legitimität, über verschiedene Aspekte der Migration und Integration zu reden?

Wie viel Sinn macht es, sich als samo.fa-Partner dort einzusetzen?

Partnerorganisationen dabei zu bestärken, sich wieder in diese „verstaubten“ Gremien einzubringen, macht sehr viel Sinn. In vielen dieser Gremien finden sich keine Vertreter von Migrantenorganisationen mehr. Viele unserer samo.fa-Partner haben dank des Projekts in der Kommune eine vorher nicht da gewesene Sichtbarkeit erfahren, so dass sie es eigentlich leichter haben könnten, in diese Strukturen reinzukommen. Sie können dort Themen einbringen, die sie durch ihren Bezug in den verschiedenen Communities kennen – und sachkundige Bürger ohne diesen Bezug eben nicht. Zum Beispiel, wo es Alltagsrassismus gibt oder dass kultursensible Beratung fehlt. Oder viele Geflüchtete keinen Kita-Platz finden und es Bedarfe an interkultureller Paarberatung gibt.

Was bedeutet diese Form der Teilhabe für Geflüchtete? Können ihre Interessen über Migrantenorganisationen vertreten werden?

Beatrix Butto: Für viele Geflüchtete selbst wird es, sobald ihr Deutsch besser wird, zunehmend interessant, in diversen Arbeitskreisen, Gremien oder Integrationsbeiräten mitzuwirken. Denn um in einer Gesellschaft anzukommen, braucht man nicht nur ein Dach über dem Kopf und einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz; man will mitgestalten, mitreden, sich engagieren. Es wenden sich viele Geflüchtete mit Fragen danach an Migrantenorganisationen, weil diese oft über jahrzehntelange Erfahrung verfügen und die richtigen Ansprechpartner kennen. Es ist für sie – und oft auch für uns – schwierig zu durchblicken, welche Gremien einer Kommune für sie interessant und relevant sind. Aber man muss auch sagen, dass speziell in Integrationsräten auch viele „alteingesessene“ Migrantenorganisationen nicht mehr so vertreten sind, wie es vor ein paar Jahren der Fall war. Deshalb gilt es, Geflüchtete selbst zu empowern, sich in dieser Hinsicht zu engagieren und Migrantenvereine zu aktivieren, um ihre Präsenz in diesen Gremien zu steigern. Es ist ja eben trotz der Mängel eine Möglichkeit, mit der Stadtpolitik ins Gespräch zu kommen.

Wie präsent ist Interessenvertretung von und durch Menschen mit Fluchtgeschichte überhaupt auf der kommunalpolitischen Ebene? Welche Rolle kann samo.fa spielen?

Beatrix Butto: Im Bereich der Flüchtlingspolitik gibt es viele Interessensvertretungen – zu viele. In den letzten vier Jahren sind Akteure und Organisationen, die die Interessen von Geflüchteten vertreten, wie Pilze aus dem Boden geschossen. Natürlich war auf fast jeder Tagesordnung der Beiräte das Thema „Geflüchtete“ und alle Bereiche, die es betrifft, immer ganz oben. Es ging um Unterbringung, Deutschkurse, Ausbildung und so weiter. Also gab es dazu die jeweilig zuständigen Ämter. Geflüchtete selbst waren wenig bis gar nicht vertreten. Nun haben wir in vielen samo.fa Partnerstädten sehr motivierte Geflüchtete, die selbst schon Vereine gegründet haben und sich auch politisch sehr engagieren. Unterstützt von Flüchtlingsräten und Migrantenorganisationen rufen sie zu Demonstrationen auf, beispielsweise wenn es um die furchtbaren Ereignisse in Ellwangen geht und wie dort mit Geflüchteten während eines polizeilichen Großeinsatzes umgegangen wurde.

Haus Afrika fordert im Wahlprogramm auch das kommunale Wahlrecht für alle Migrant*innen – also endlich Entscheidungen zu treffen, statt nur zu beraten.

Beatrix Butto: Ja, das ist gerade das heiß diskutierte Thema. Und obwohl jedes Mal, wenn in einer Kommune Wahlen anstehen oder gerade jetzt vor den Wahlen zum europäischen Parlament, sehr viel darüber diskutiert und debattiert wird, wie man Bürger ohne deutschen oder einem anderen EU-Pass die Mitsprache am gesellschaftlichen Leben ermöglichen kann, passiert in der Praxis gar nichts. Seit einigen Jahren führen Migrantenorganisationen für diese Personengruppe ohne Wahlrecht eine Art Ersatzwahlen durch, um aufzuzeigen wie hoch der Anteil an Personen ist, die von diesem Recht nicht Gebrauch machen dürfen und wie die Wahltendenz aussieht. Wenn man sich überlegt, dass es in Deutschland Städte gibt, wo der Anteil an Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, bereits den 50%-Anteil überschreitet wie beispielsweise in Heilbronn, ist es erschreckend, dass ein Großteil dieser Personen nicht die kommunale Politik mitbestimmen dürfen.

Das Modell Integrationsrat oder Integrationsbeirat gilt ja sogar als Reformansatz im Vergleich zum „Ausländerbeirat“. Was sagt das über die Teilhabechancen von Migrantinnen und Migranten aus?

Beatrix Butto: Dass sie überhaupt nicht ausreichend vorhanden sind. Ob Integrationsrat oder Integrationsbeirat – all diese Begriffe beinhalten schon im Namen das Wort „Rat“ – es sind beratende Organe. Ich denke man muss –  je nach Voraussetzungen und der Integrationspolitik in einer Kommune – Gremien und Strukturen schaffen, die mehr Entscheidungsbefugnisse haben. Abgesehen davon, dass sie in der Besetzung auch vielfältig sein sollen mit Vertreterinnen und Vertretern von Migrantenorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, der Kommune und der Wirtschaft. Dass sie nicht nur die Gemeinderäte beraten, sondern auch mit entscheiden. Dafür braucht es starke Migrantenorganisationen, die politisch aktiv sind, die sich in Dachverbänden organisieren, um überparteilich, säkular und umfassend Interessen von Migrant*innen verschiedenster Herkunft zu vertreten. Ich denke, dass solchen Dachverbänden mehr Mitsprache- und Entscheidungsbefugnis gegeben werden soll, denn sie vertreten die Personen, um die es doch geht, wenn man von gesellschaftlicher Teilhabe von Migrantinnen und Migranten spricht. Diese Verbände sollten wieder in Integrationsbeiräten vertreten sein, denn die Anzahl und die Vielfalt ihrer Mitglieder geben ihnen bei weitem mehr Legitimität über Migrantinnen und Migranten zu sprechen als einzeln berufene „sachkundigen Bürger“.

Sind die Räte überhaupt noch zeitgemäß?

Beatrix Butto: Auch wenn sie zurzeit nicht sonderlich einflussreich sind, lautet die Antwort ja. Denn solange für viele Menschen mit einer so genannten Migrationsgeschichte – und warum ist man eigentlich in der dritten Generation noch Migrant?! –  Chancengleichheit nicht gegeben ist, noch sehr viel struktureller Rassismus herrscht und diese Menschen nicht auf Chef- und Entscheidungsposten sitzen, so lange muss es noch „spezielle“ Räte geben, die die Interessen dieser Menschen vertreten. Wir müssen jedoch dafür sorgen, dass diese Räte keine „Alibi“ oder „Quoten-Räte“ bleiben nach dem Motto „die Interessen von Migrantinnen und Migranten sind doch vertreten“, sondern dass sie einen spürbaren, realen Einfluss auf die kommunale Politik haben. Ich hoffe sehr, dass es unseren samo.fa-Partnern in verschiedenen Städten gelingt, in diese Räte gewählt zu werden!

Beatrix Butto ist samo.fa-Netzwerkbegleiterin für die Region Süd und arbeitet beim Forum der Kulturen in Stuttgart.

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