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„Diesen Kindern wird Teilhabe langfristig verbaut“

By 12. March 2019

Obwohl Diskriminierung von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte sich nur in den wenigsten Fällen beweisen lässt, gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sie stattfindet: Eine OECD-Studie zeigt zum Beispiel, dass Kinder aus sozial schlechter gestellten oder Einwandererfamilien schlechtere Chancen auf höhere Bildung als andere Kinder haben. Mehrere Untersuchungen deuten außerdem darauf hin, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund bessere Leistungen erbringen müssen als ihre Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten.

Mustafa Birhimeoglu vom Verein für Multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit IFAK e.V. kennt die Probleme, die daraus entstehen können. Als Koordinator für das samo.fa Projekt in Bochum betreut er unter anderem geflüchtete Familien und unterstützt sie beim Ankommen in Deutschland. Im Interview erklärt er, wie komplex die Herausforderungen für Zugewanderte sind, deren Kinder oftmals nach einer Flucht hier angekommen die Diskriminierung der Institution Schule erfahren.

Beobachtest Du institutionelle Diskriminierung an Schulen in Bochum?

Institutionelle Diskriminierung in Schulen ist kein Einzelfall, weder in Bochum noch in anderen Städten in Deutschland. Die Zeugnisse nach der vierten Klasse sind schon lange ein besonderer Einschnitt: Kinder werden für die weiterführenden Schulen sortiert. Es ist längst wissenschaftlich erwiesen, wer dabei die Verlierer sind: Kinder mit Migrationsgeschichte. Und obwohl das seit Jahren bekannt ist, diskriminiert das dreigliedrige Schulsystem weiter  – bei geflüchteten Kindern sogar auf ganz extreme Weise.

Wieso?

Sie landen zu häufig auf Sonderschulen. Sie kommen in Bochum an, werden nach Alter in Klassen aufgeteilt. Wer neu in die vierte Klasse kommt und entsprechend wenig Zeit für das Erlernen der Sprache hatte, bekommt keine gute Schulempfehlung. Mit dem Potenzial der Kinder hat das überhaupt nichts zu tun. Chancengleichheit ist das nicht ansatzweise, im Gegenteil: Diesen Kindern wird Teilhabe dadurch langfristig verbaut – und das hat mit Herkunft zu tun.

Eine bewusst rassistische Ausgrenzung?

Jedenfalls eine systematische, es ist die Struktur, die Hürden aufbaut, keine Einzelperson – obwohl es natürlich auch das gibt. Strukturelle Ausgrenzung gibt es im Schulsystem an noch mehr Stellen. Lehrer*innen sind weder in der Aus- noch in der Fortbildung für Rassismus und den Umgang mit mehrsprachigen und geflüchteten Kindern sensibilisiert. Dabei ist die Schülerschaft in Bochum und vielen anderen Städten doch längst sehr divers. Das passt gar nicht zusammen und fördert diese Diskriminierungsstrukturen. Dazu kommt, dass die Klassen sehr groß sind, viele Schulen keine bilinguale Sozialarbeiter*innen haben und wenn es welche gibt, haben sie so viel Büroarbeit, dass sie gar nicht individuell auf Schüler*innen eingehen können. Gerade für geflüchtete Kinder, die noch Stress, Traumata und vielleicht auch auseinandergerissenen Familien verarbeiten müssen, ist Verständnis und genaues Hinschauen aber wichtig. Leider empfinden viele geflüchtete Eltern, die ja auch das deutsche Schulsystem erst kennenlernen, Sonderschulen sogar als Erleichterung.

Warum erleichternd?

Spezielle Busse oder Taxis holen die Kinder ab und es gibt eine längere Nachmittagsbetreuung. Das empfinden viele Familien als Entlastung. Sie stehen schließlich vor genügend anderen Hürden, fühlen sich überfordert und  haben in Sonderschulen verlässliche Betreuung für ihre Kinder. Aber das kann ja nicht die Lösung sein. Die Kinder könnten auf anderen Schulen mehr erreichen, werden so aber zu Verlierern des Bildungssystems. Ein krasses Beispiel für institutionellen Rassismus. Was Geflüchtete angeht findet er auch noch in einem System statt, das sie noch nicht komplett durchschauen.

Wenn ein System diskriminiert, wie können Menschen oder Gruppen sich wehren?

Für Geflüchtete sind Migrantenorganisationen eine gute Anlaufstelle. Denn unsere Ehrenamtlichen im samo.fa-Projekt kennen sowohl ihre Situation als auch das deutsche Schulsystem. Deshalb können sie an dieser Stelle qualifizierter beraten als Lehrer*innen ohne interkulturelle Ausbildung und haben eigene Lösungsansätze.

Welche sind das?

Zum Beispiel arbeiten sie mit der ganzen Familie. Sie können Eltern davon abhalten, den vermeintlich leichten Weg der Sonderschule zu wählen, den Grundschulen empfehlen. Als Organisation hat man auch mehr Möglichkeiten, auf solche strukturellen Missstände hinzuweisen, weil eine gemeinsame Stimme gegen Rassismus und Diskriminierung mehr bewirkt. Allerdings ist es schwierig, Schulsysteme zu verändert: Sie sind Ländersache, entsprechend ändert sich erstmal sowieso nichts flächendeckend. Gesetze und Systeme zu verändern, ist harte Überzeugungsarbeit, denn mit alten Gegebenheiten zu arbeiten, ist erstmal bequemer. Als erstes müsste dieser Rassismus als Problem anerkannt werden, auch davon sind wir noch entfernt. Auch hier leisten Migrantenorganisationen einen Beitrag. Die Schulen sollten diese Erfahrungen für sich nutzen. Statt bei Problemen mit Jugendlichen direkt die Behörden oder die Polizei einzubeziehen, könnten Migrantenorganisationen als Mittler eine Schnittstelle zwischen Geflüchteten und Lehrkräften bilden.

Wie kann man das ermöglichen?

Die Kommunen müssen uns mehr einbeziehen und endlich lernen, dass Migrantenorganisationen nicht nur aus Tanzveranstaltungen und exotischem Essen bestehen. Ein ehrenamtlicher Übersetzer zum Beispiel kann helfen, wenn Schulen sich keinen Dolmetscher leisten können. Weiterbildungen im Umgang mit Diskriminierung können Migrantenorganisationen ebenso vermitteln mit allen nötigen Kompetenzen.

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